“Du bist Direktor eines Gefängnisses im deutschen Kaiserreich. Kaiser Wilhelm hat angekündigt, dass er zur Hinrichtung eines Hochverräters persönlich anreisen werde.
Zum besagten Termin herrscht übles Winterwetter. Zur vereinbarten Zeit ist vom Sonderzug des Kaisers keine Spur zu sehen. Der Zeitpunkt für die Hinrichtung rückt näher.
Da erhältst Du vom Kaiser ein Telegramm, auf dem steht:
Wartet nicht schiessen
Was tust Du?
…
Dieser Artikel könnte jetzt von der Missverständlichkeit von Führungskommunikation handeln und davon, dass Untergebene immer am kürzeren Hebel sind, selbst wenn es sich wie bei den meisten Managern um Gefängnisdirektoren handelt. Aber darum geht es uns hier nicht. Die Chancen, dass Du das fehlende Komma an der falschen Stelle setzt, stehen 50 zu 50. Und je komplexer und undurchsichtiger die Welt, desto öfter sehen wir uns in die Lage des Gefängnisdirektors versetzt: Wir müssen entscheiden, obwohl es keine Wahrscheinlichkeit gibt, richtig zu liegen, geschweige denn eine Sicherheit.
Eine erste Heuristik, in solchen Situationen zu entscheiden, wäre der kategorische Imperative von Heinz von Förster: “Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten zunimmt.” In diesem Fall ist es für unsern Gefängnisdirektor besser, mit der Hinrichtung zuzuwarten. Sollte er falsch liegen, hat er zwar den Befehl missverstanden, aber er kann die Hinrichtung nachträglich vollstrecken. Falls er sofort schiesst und damit falsch liegt, kann er seine Handlung nicht mehr korrigieren. Eine Ableitung aus diesem Grundsatz wäre, mit schwer korrigierbaren Entscheiden so lange wie möglich zuzuwarten.
Aber wie so oft bei Heuristiken gibt es auch gute Gründe für das Gegenteil: einen Teil der Optionen bewusst und frühzeitig auszuschliessen. Ich war einmal an einer Veranstaltung, wo Führungskräfte einer Regionalbank über Massnahmen der Strategieumsetzung diskutierten. Ganz zu Beginn stellte der Direktor klar, dass alle denkbaren Optionen diskutiert werden sollen, mit einer Ausnahme: Die Schliessung von Filialen in abgelegenen Gemeinden stehe hier nicht zur Debatte. Was hat er damit erreicht? Auf einen Schlag sind geschätzte 30-40% der Diskussionszeit für andere Themen freigesetzt worden, da dieses hochemotionale Thema soviel Aufmerksamkeit gebunden hätte. Und selbst wenn manch eine Filialschliessung vielleicht sogar eine ganz gute Idee gewesen wäre, so wäre die wirkliche Diskussion dieses Thema ganz sicher mit den politischen Stakeholdern zu führen, und nicht mit dem Management.
Spätes Entscheiden bringt uns also Handlungsmöglichkeiten, frühes Entscheiden Fokus und Speed. Was ist besser?
Und hier sind wir wieder einmal bei der passendsten Antwort für komplexe Verhältnisse angelangt, die nur leider auch so enttäuschend ist: “Es kommt drauf an.” Mary und Tom Poppendieck nennen dies “im letzten verantwortbaren Moment” zu entscheiden.
Wie entscheidest Du?